Bahá'u'lláh - Eine Einführung - 4

Die Verkündigung an die Könige

Die Schriften, aus denen zitiert wurde, entstanden größtenteils unter den Bedingungen neu einsetzender Verfolgungen. Kaum waren die Verbannten in Konstantinopel eingetroffen, da wurde schon klar, daß die Bahá'u'lláh auf der Reise erwiesenen Ehren nur ein kurzes Zwischenspiel darstellten. Die Entscheidung der osmanischen Behörden, den "Bábí"-Führer und Seine Gefährten nicht in eine entlegene Provinz, sondern in die Reichshauptstadt zu verlegen, vertiefte die Unruhe unter den persischen Regierungsvertretern. 72 Sie fürchteten, daß sich die Vorgänge von Bagdad wiederholten und diesmal nicht nur die Sympathie, sondern vielleicht gar die Gefolgschaft einflußreicher Persönlichkeiten in der türkischen Regierung fänden. Der persische Botschafter drängte deshalb auf die Deportation der Verbannten in einen weiter entfernten Teil des Reiches, weil - so sein Argument -, die Ausbreitung einer neuen religiösen Lehre in der Hauptstadt unerwünschte politische und religiöse Folgen haben könnte.

Zunächst widersetzte sich die osmanische Regierung. Der Großwesir 'Alí Páshá ließ westliche Diplomaten wissen, seiner Meinung nach sei Bahá'u'lláh "ein Mann von hohem Rang, vorbildlichem Verhalten, großer Mäßigung und eine überaus würdige Gestalt". Seine Lehren seien "hoher Beachtung wert", da sie den religiösen Streitigkeiten zwischen den jüdischen, christlichen und muslimischen Untertanen des Reiches entgegenwirkten. 73

Nach und nach entwickelte sich jedoch ein gewisses Maß an Verstimmung und Argwohn. In der osmanischen Hauptstadt lag die politische und wirtschaftliche Macht in den Händen von Hofleuten, die fast alle wenig fähig oder inkompetent waren. Bestechung war das Öl, das die Regierungsmaschinerie in Gang hielt; wie ein Magnet zog die Hauptstadt Scharen von Leuten an, die aus allen Teilen des Reiches und noch weiter her kamen, um Gunst und Einfluß zu gewinnen. Von einer prominenten Gestalt aus dem Ausland oder aus einem der tributpflichtigen Gebiete wurde erwartet, daß sie sich sofort nach ihrer Ankunft in Konstantinopel unter die Protektion suchenden Besucherscharen in den Empfangshallen der Paschas und Minister einreihte. Dabei hatte keine Gruppe einen schlechteren Ruf als die miteinander im Streit liegenden politischen Exilanten aus Persien, die für ihre Durchtriebenheit und Skrupellosigkeit bekannt waren.

Zum Kummer Seiner Freunde, die Ihn drängten, die ablehnende Haltung des Hofs gegenüber der persischen Regierung und die Sympathie zu nutzen, die man Ihm wegen Seiner Leiden entgegenbrachte, machte Bahá'u'lláh allen klar, daß Er keine Wünsche vorzubringen habe. Obwohl Ihm mehrere Minister an dem Ihm zugewiesenen Domizil Höflichkeitsbesuche abstatteten, nahm Er diese günstigen Gelegenheiten nicht wahr. Er sei, so sagte Er, in Konstantinopel als Gast des Sultans und auf dessen Einladung; Sein Interesse liege auf dem Gebiet des Geistig-Sittlichen.

Jahre später kam der persische Botschafter Mírzá usayn Khán auf seine Dienstzeit in der osmanischen Hauptstadt zu sprechen. Er beklagte den Schaden, den die Gier und der Mangel an Vertrauenswürdigkeit seiner Landsleute Persiens Ansehen in Konstantinopel zugefügt hatten, und zollte dem von Bahá'u'lláh während Seines kurzen Aufenthalts gezeigten beispielhaften Verhalten einen bemerkenswert ehrlichen Tribut.74 Damals75 jedoch hatten er und seine Kollegen die Lage ausgenutzt: Sie sprachen von einem schlauen Versteckspiel des Verbannten und von geheimer Verschwörung gegen die öffentliche Sicherheit und die Staatsreligion. Unter dem Druck dieser Einflüsse entschlossen sich die osmanischen Behörden zu guter Letzt, Bahá'u'lláh samt Seiner Familie in die Provinzhauptstadt Adrianopel zu verlegen. Der Umzug geschah überstürzt mitten in einem bitterkalten Winter. In unzulänglichen Gebäuden untergebracht, ohne ausreichende Kleidung und andere Güter des täglichen Bedarfs, machten die Verbannten ein Jahr schwerer Leiden durch. Es war klar, daß sie, denen man keine Verfehlung vorwarf, und denen man auch keine Gelegenheit zur Verteidigung gab, willkürlich zu Staatsgefangenen gemacht worden waren.

Religionsgeschichtlich gesehen, haben die aufeinanderfolgenden Verbannungen Bahá'u'lláhs nach Konstantinopel und Adrianopel eindrucksvolle Symbolkraft. Zum erstenmal hatte eine Manifestation Gottes, der Stifter einer unabhängigen Religion, die sich bald über den ganzen Planeten verbreiten sollte, die schmale Meerenge überquert, die Asien von Europa trennt, und hatte den Fuß auf den Boden des Westens gesetzt. Alle anderen großen Religionen sind in Asien entstanden, ihre Stifter haben nur in Asien gewirkt. Auf die Tatsache verweisend, daß die Sendungen der Vergangenheit, besonders diejenigen von Abraham, Christus und Muammad, ihre bedeutsamsten Auswirkungen auf die Kulturentwicklung im Verlauf ihrer Westexpansion zuwege brachten, sagte Bahá'u'lláh voraus, dasselbe werde auch in diesem Zeitalter eintreten, nur in viel größerem Maße: "Im Osten ist das Licht Seiner Offenbarung angebrochen, im Westen erscheinen die Zeichen Seiner Herrschaft. Sinnt darüber nach in euren Herzen, o Menschen..." 76

So ist es wohl nicht überraschend, daß Bahá'u'lláh diesen Augenblick wählte, um mit der Sendung an die Öffentlichkeit zu treten, die nach und nach die Bábí im ganzen Mittleren Osten gewonnen hatte. Für diese Verkündigung wählte Er eine Folge von Sendbriefen, die zu den bemerkenswertesten Dokumenten der Religionsgeschichte gehören. Darin wendet sich die Manifestation Gottes an die "Könige und Herrscher der Welt", verkündet ihnen, daß der Tag Gottes angebrochen sei, und sagt damals unvorstellbare Veränderungen voraus, die auf der ganzen Welt immer mehr an Boden gewönnen. Er ruft die Herrscher auf, sich als Treuhänder Gottes und ihrer Völker zu erheben und für die Vereinigung des Menschengeschlechts zu wirken. Verehrt von der Masse ihrer Untertanen und größtenteils absolute Herrschaft ausübend, liege es in ihrer Macht, sagte Bahá'u'lláh, zu dem beizutragen, was Er den "Größten Frieden" nannte, eine von der Idee der Einheit geprägte, von göttlicher Gerechtigkeit beseelte Weltordnung.

Nur äußerst schwer kann sich der moderne Leser die sittlich-geistige Welt vorstellen, in der diese Monarchen vor über hundert Jahren lebten. Aus ihren Biographien und ihrem privaten Briefwechsel zeigt sich, daß sie mit wenigen Ausnahmen persönlich recht fromm waren und im religiösen Leben ihrer Völker eine führende Rolle spielten, oft als Oberhaupt der Staatsreligion, überzeugt von der unfehlbaren Wahrheit der Bibel oder des Qur'án. Die Macht, welche die meisten von ihnen innehatten, leiteten sie unmittelbar von einer göttlichen Bevollmächtigung durch Bibel- oder Qur'án-Stellen ab, einer Vollmacht, die zu betonen sie nicht müde wurden. Sie waren die Gesalbten Gottes. Prophezeiungen über den "Jüngsten Tag" und das "Reich Gottes" waren für sie keine Mythen oder Sinnbilder, sondern eine Gewißheit, auf der die ganze sittliche Ordnung ruhte und nach der sie selbst von Gott zur Rechenschaft über ihre Amtsausübung gezogen würden.

Bahá'u'lláhs Briefe gehen auf diese Geisteswelt ein: "O Könige der Erde! Er, der souveräne Herr aller, ist gekommen. Das Reich ist Gottes, des allmächtigen Beschützers, des Selbstbestehenden... Dies ist eine Offenbarung, mit der niemals vergleichbar ist, was ihr besitzet, wenn ihr es doch wüßtet!... Hütet euch, daß Hochmut euch nicht abhalte, den Quell der Offenbarung zu erkennen, daß die Dinge dieser Welt euch nicht wie ein Schleier von Ihm, dem Schöpfer des Himmels, trennen... Bei der Gerechtigkeit Gottes! Wir haben nicht den Wunsch, Hand an euere Reiche zu legen. Unsere Aufgabe ist, die Herzen der Menschen zu ergreifen und zu besitzen..." 77

"Wisset, daß die Armen das Pfand Gottes in euerer Mitte sind. Seid achtsam, daß ihr Sein Pfand nicht veruntreut, daß ihr nicht ungerecht an ihnen handelt und auf den Wegen der Treulosen wandelt. Ihr werdet ganz gewiß über Sein Pfand zur Rechenschaft gezogen werden an dem Tage, da die Waage der Gerechtigkeit aufgestellt ist, dem Tage, da jedem vergolten wird, was ihm gebührt, da die Taten aller Menschen, ob reich oder arm, gewogen werden... Prüfet Unsere Sache, erforschet alles, was Uns widerfahren ist, entscheidet gerecht zwischen Uns und Unseren Feinden, und gehört zu denen, die unparteiisch mit ihrem Nächsten verfahren. Wenn ihr der Hand des Unterdrückers nicht Einhalt gebietet, wenn ihr versäumt, die Rechte der Getretenen zu schützen, welches Recht habt ihr dann, euch vor den Menschen zu brüsten?..." 78

"Wenn ihr den Ratschlägen, die Wir in unvergleichlicher, eindeutiger Sprache auf dieser Tafel offenbaren, keine Beachtung schenkt, wird göttliche Züchtigung von allen Seiten über euch kommen, und Seine Gerechtigkeit wird über euch ihr Urteil fällen. An jenem Tage werdet ihr keine Macht haben, Ihm zu widerstehen, und euere Ohnmacht erkennen..." 79

Die Vision vom "Größten Frieden" stieß bei den Herrschern des 19. Jahrhunderts auf taube Ohren. Im Westen erfüllte nationalistische Großmannssucht und imperialistischer Ausdehnungsdrang nicht nur die Könige, sondern auch die Parlamentarier, Akademiker, Künstler, Journalisten samt den Repräsentanten religiöser Institutionen - allesamt eifrige Propagandisten westlichen Überlegenheitsdenkens. Vorschläge für gesellschaftliche Veränderungen, so interessenfrei und idealistisch sie auch waren, fielen rasch einem Schwall neuer Ideologien zum Opfer, welche die steigende Flut eines dogmatischen Materialismus emporspülte. Der Orient hingegen ließ sich von seinem eigenen Anspruch blenden, alles zu verkörpern, was die Menschheit je über Gott und die Wahrheit wissen konnte; so sank die islamische Welt immer tiefer ab in stumpfe Unwissenheit und grämliche Widerborstigkeit gegen eine Welt, die ihr diese geistige Vorrangstellung verweigerte.

Ankunft im Heiligen Land

Nach dem Vorspiel in Bagdad verwundert es, daß die osmanischen Behörden nicht die Folgen voraussahen, die Bahá'u'lláhs Aufenthalt in einer anderen wichtigen Provinzhauptstadt haben würde. Ein Jahr nach Seiner Ankunft in Adrianopel hatte ihr Gefangener das Interesse, später sogar die glühende Bewunderung der prominenten Persönlichkeiten des geistigen und politischen Lebens der Region auf sich gezogen. Zum Entsetzen der konsularischen Vertreter Persiens waren zwei der ergebensten Bewunderer Khurshíd Páshá, der Provinzgouverneur, und der Shaykhu'l-Islám, der oberste sunnitische Würdenträger. In den Augen Seiner Gastgeber und der breiten Öffentlichkeit war der Verbannte ein Moralphilosoph und ein Heiliger, dessen Lehren nicht nur durch Seinen beispielhaften Lebenswandel bewiesen wurden, sondern auch durch die Veränderung, die sie bei der Flut persischer Pilger bewirkten, die in diese entlegene Stadt des Osmanischen Reiches strömten, um Ihn zu besuchen. 80

Eine derart beispiellose Entwicklung brachte den persischen Botschafter und seine Kollegen zu der Überzeugung, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Bahá'í-Bewegung, die sich weiterhin in Persien ausbreitete, auch in Persiens rivalisierendem Nachbarreich zu bestimmendem Einfluß gelangte. In dieser ganzen Epoche kämpfte das baufällige Osmanische Reich gegen wiederholte Einfälle des zaristischen Rußlands, gegen Aufstände der unterworfenen Völker und gegen hartnäckige Versuche der vorgeblich wohlwollenden Regierungen Großbritanniens und Österreichs, türkische Gebiete abzutrennen und ihren eigenen Reichen einzuverleiben. Die daraus resultierende Unsicherheit der politischen Lage in den europäischen Provinzen der Türkei lieferte dem persischen Botschafter neue, gewichtigere Argumente für seine Forderung, man möge die Verbannten in eine entfernte Kolonie verlegen, wo Bahá'u'lláh keine Verbindung zu einflußreichen Kreisen der Türkei oder auch des Westens mehr halten könne.

Als der türkische Außenminister, Fu'ád Páshá, von einem Besuch in Adrianopel zurückkehrte, verhalf sein verwunderter Bericht über das Ansehen, das Bahá'u'lláh in der ganzen Region genoß, offenbar den Vorstößen der persischen Botschaft zu neuer Überzeugungskraft. In dieser Atmosphäre entschloß sich die Regierung plötzlich, ihren Gast in strengen Gewahrsam zu nehmen. Ohne Vorwarnung wurde Bahá'u'lláhs Haus eines frühen Morgens von Soldaten umstellt; die Verbannten wurden angewiesen, sich auf die Abreise an einen unbekannten Ort vorzubereiten.

Als nunmehr letzter Verbannungsort war die düstere Festungsstadt 'Akká an der Küste des Heiligen Landes ausersehen. 'Akká war im ganzen Reich berüchtigt für sein schlechtes Klima und die zahlreichen Krankheiten. Der osmanische Staat benutzte die Stadt deshalb als Strafkolonie für gefährliche Kriminelle, in der Erwartung, daß sie dort ihre Haft nicht lange überlebten. Nach der Ankunft im August 1868 machten Bahá'u'lláh, Seine Familie und die mit Ihm verbannten Gläubigen zwei leidvolle Jahre in der Festung durch. Dann wurde Er in einem benachbarten Gebäude, das einem ortsansässigen Kaufmann gehörte, unter Hausarrest gestellt. Lange Zeit wurden die Verbannten von den abergläubischen Bewohnern gemieden, die man in öffentlichen Predigten vor dem "Gott der Perser", dem Feind der öffentlichen Ordnung, dem Verbreiter gotteslästerlicher, unmoralischer Ideen, gewarnt hatte. Mehrere der Verbannten starben an den Folgen der unerträglichen Bedingungen. 81

Rückblickend erscheint es als eine Ironie der Geschichte, daß die Auswahl des Heiligen Landes als Ort für Bahá'u'lláhs Gefangenschaft auf den Druck geistlicher und politischer Feinde zurückzuführen ist, deren Ziel es war, Seinen religiösen Einfluß auszuschalten. Palästina, von drei der großen monotheistischen Religionen als der Schnittpunkt der Welten Gottes und der Welt des Menschen verehrt, hatte damals wie schon seit Jahrtausenden einen einzigartigen Platz in den Zukunftserwartungen der Menschheit. Nur wenige Wochen vor Bahá'u'lláhs Ankunft hatten sich Templer82 aus Süddeutschland eingeschifft, um am Fuß des Berges Karmel eine Kolonie zu errichten und dort Christus willkommen zu heißen, dessen Advent nach ihrer Überzeugung unmittelbar bevorstand. Über den Türstürzen mehrerer kleiner Häuser, die sie damals mit Blick über die Bucht auf Bahá'u'lláhs Gefängnis in 'Akká errichteten, sind heute noch Inschriften wie "Der Herr ist nahe" zu lesen.

In 'Akká fuhr Bahá'u'lláh fort, eine bereits in Adrianopel begonnene Reihe von Sendbriefen an einzelne Herrscher zu diktieren. In einigen Briefen warnte Bahá'u'lláh den Adressaten vor dem Gericht Gottes wegen seiner Nachlässigkeit und seines Machtmißbrauchs. Einige der Sendbriefe enthielten Prophezeiungen, deren dramatische Erfüllung im ganzen Nahen Osten zu eingehenden öffentlichen Diskussionen führte. Zum Beispiel wurde Fu'ád Páshá, der osmanische Außenminister, dessen entstellender Bericht zu der überstürzten Verbannung nach 'Akká geführt hatte, kaum zwei Monate nach der Ankunft der Verbannten in der Gefängnisstadt abgesetzt; er starb kurze Zeit später in Frankreich an einer Herzattacke. Dieses Ereignis hatte Bahá'u'lláh vorausgesagt in einem Dokument, das auch die baldige Entlassung 'Alí Páshás, des Premierministers, den Sturz und den Tod des Sultans sowie den Verlust türkischer Besitzungen in Europa zum Gegenstand hatte - eine Serie von Katastrophen, die in kurzen Abständen aufeinander folgten. 83

Ein Sendbrief an Kaiser Napoleon III. sagte diesem wegen seiner Unaufrichtigkeit und seines Machtmißbrauchs den Verlust seiner Macht voraus:
"Für das, was du getan, soll dein Reich in Verwirrung gestürzt werden; deine Herrschaft soll deinen Händen entgleiten, zur Strafe für das, was du begangen... Hat dich dein Pomp stolz gemacht? Bei Meinem Leben! Er soll nicht von Dauer sein..." 84 Über den verhängnisvollen Deutsch-Französischen Krieg und den Sturz Napoleons III., kaum ein Jahr nach diesen Worten Bahá'u'lláhs, schreibt Alistair Horne, ein Kenner der politischen Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert: "Wahrscheinlich kennt die ganze Geschichte kein bestürzenderes Beispiel für das, was die alten Griechen peripateia, den furchtbaren Sturz aus stolzen Höhen, nannten. Mit Sicherheit ist in neuerer Zeit keine Nation, die so erfüllt war von strahlender Größe und materiellem Überfluß, in so kurzer Zeit einer schlimmeren Demütigung unterworfen gewesen." 85

Nur wenige Monate vor der unerwarteten Serie von Ereignissen in Europa, die zum Einmarsch der Truppen des neuen Königreichs Italien in den Kirchenstaat und zur Einverleibung Roms führten, hatte ein an Papst Pius IX. gerichteter Sendbrief den katholischen Oberhirten aufgefordert: "Übergib dein Reich den Königen und tritt hervor aus deiner Wohnstatt, dein Angesicht zum Reiche Gottes erhoben... Sei so, wie dein Herr gewesen... Wahrlich, der Tag der Ernte ist gekommen, und alle Dinge sind voneinander geschieden worden. Er hat, was Er wollte, in den Gefäßen der Gerechtigkeit verwahrt und ins Feuer geworfen, was diesem verfallen ist..." 86

Der preußische König Wilhelm I., dessen Armeen im Krieg gegen Frankreich einen triumphalen Sieg errungen hatten, wurde von Bahá'u'lláh in Seinem Kitáb-i-Aqdas gewarnt, den jähen Sturz Napoleons und anderer ehedem siegreicher Herrscher zu bedenken und sich nicht stolz vor dieser Offenbarung zu verschließen. Bahá'u'lláh sah voraus, daß es der deutsche Kaiser versäumen würde, diese Warnung zu beachten, wie folgende schicksalsschwere Passage zeigt, die sich wenige Seiten später im selben Buch findet:
"O Ufer des Rheins! Wir sehen euch mit Blut bedeckt, da die Schwerter der Vergeltung gegen euch gezückt wurden; und es soll noch einmal geschehen. Und Wir hören das Wehklagen Berlins, obwohl es heute in sichtbarem Ruhme strahlt." 87

Ein bemerkenswert anderer Ton kennzeichnet zwei wichtige Verkündigungen, die an Königin Viktoria88 und an die "Herrscher Amerikas und die Präsidenten seiner Republiken" gerichtet sind. Die erstere preist die Pioniertat der Abschaffung der Sklaverei im gesamten Britischen Reich und lobt den Grundsatz der parlamentarischen Herrschaftsform. Die letztere beginnt mit der Ankündigung des "Tages Gottes" und schließt mit einem Aufruf, ja einem Mandat, das in keiner der anderen Botschaften Parallelen hat: "Richtet den Gebrochenen auf mit den Händen der Gerechtigkeit, und zermalmet den Unterdrücker auf der Höhe seiner Macht mit der Rute der Gebote eures Herrn, des Gebieters, des Allweisen." 89

Religion als Licht und Finsternis

Bahá'u'lláhs härtestes Urteil gilt den Schranken, welche die organisierte Religion zu allen Zeiten zwischen den Offenbarungen Gottes und der Menschheit aufgebaut hat. Aus Aberglauben destillierte Dogmen, für deren Formulierung man eine beachtliche Intelligenz vergeudete, sind immer wieder einem göttlichen Prozeß in den Weg gestellt worden, der zu allen Zeiten geistig-sittliche Ziele verfolgte. Gesetze sozialer Interaktion, offenbart zur Festigung des Gemeindelebens, machte man zur Grundlage für Strukturen geheimnisvoller Lehrgebäude und Praktiken, die schwer auf den Volksmassen lasteten, zu deren Nutzen sie angeblich geschaffen waren. Selbst der Gebrauch der Vernunft - des Menschen größte Gabe 90 - wurde absichtlich behindert, so daß der für die Kultur lebenswichtige Dialog zwischen Religion und Wissenschaft abbrach. Die Folge dieser bedauerlichen Entwicklung ist, daß die Religion weltweit ihre Reputation verloren hat. Schlimmer noch: Die organisierte Religion ist selbst zur bösartigsten Quelle für Haß und Kampf zwischen den Völkern der Welt geworden. "Religiöser Fanatismus und Haß", warnte Bahá'u'lláh schon vor über hundert Jahren, "sind ein weltverzehrendes Feuer, dessen Gewalt niemand zu dämpfen vermag. Nur die Hand göttlicher Macht kann die Menschheit von dieser verheerenden Plage befreien." 91

Diejenigen, die Gott für diese Tragödie zur Verantwortung ziehen wird, sind nach Bahá'u'lláh die Religionsführer, die sich die ganze Geschichte hindurch angemaßt haben, für Gott zu sprechen. Ihre Versuche, das Wort Gottes zu vereinnahmen, seine Auslegung zur Erhöhung ihrer eigenen Reputation zu mißbrauchen, waren das größte Hindernis, das dem kulturellen Fortschritt im Wege stand. Um ihre Ziele zu erreichen, scheuten sie sich nicht, sich gegen die Boten Gottes zu stellen, als sie erschienen:
"Zu allen Zeiten hat die Geistlichkeit ihr Volk daran gehindert, die Küsten des Meeres ewigen Heils zu erreichen, denn sie hält die Zügel der Autorität über die Menschen in ihrem mächtigen Griff. Einige wurden aus Verlangen nach Führerschaft, andere aus Mangel an Erkenntnis und Verständnis zur Ursache der Unmündigkeit des Volkes. Mit ihrer Zustimmung und unter ihrer Amtsgewalt mußten alle Propheten Gottes vom Kelche des Opfers trinken..." 92

An die Geistlichen aller Religionen gewandt, weist Bahá'u'lláh auf die Verantwortung hin, die sie im Laufe der Geschichte so sorglos an sich gerissen haben:
"Ihr gleicht einer Quelle. Wenn sie sich verändert, werden die Ströme, die ihr entspringen, sich verändern. Fürchtet Gott und gesellt euch zu den Gottesfürchtigen! Verdirbt das Herz des Menschen, so verderben seine Glieder. Und verfault die Wurzel eines Baumes, so verdorren seine Äste, seine Triebe, seine Blätter und Früchte." 93

Diese Aussagen, zu einer Zeit offenbart, da religiöse Orthodoxien in der ganzen Welt zu den einflußreichsten Mächten gehörten, machten zugleich klar, daß deren Macht in Wirklichkeit zu Ende gegangen ist und die Geistlichkeit in der Zukunft der Menschheit keine gesellschaftliche Rolle mehr spielen wird: "O Schar der Geistlichen! Ihr werdet künftighin keine Macht mehr besitzen..." 94 Zu einem unversöhnlichen Gegner aus der muslimischen Geistlichkeit spricht Bahá'u'lláh:
"Du gleichst der letzten Spur des Sonnenlichts auf der Bergesspitze. Bald wird sie dahinschwinden, wie es Gott, der Allbesitzende, der Höchste, verordnet hat. Weggenommen ist von dir und deinesgleichen aller Ruhm..." 95

Nicht gegen die organisierte Religion wenden sich diese Erklärungen, sondern gegen deren Mißbrauch. Hoch schätzen Bahá'u'lláhs Schriften die großen Kulturbeiträge religiöser Autoritäten ein, aber auch den Nutzen aus der Selbstaufopferung und der Nächstenliebe, welche die Geistlichen und die religiösen Orden aller Glaubensrichtungen der Menschheit gebracht haben:
"Jene Geistlichen,... die wahrhaft mit dem Schmuck der Erkenntnis geziert sind und einen rechtschaffenen Charakter besitzen, sind wahrlich wie ein Haupt für den Leib der Welt und wie Augen für die Völker..." 96

Alle Menschen, Gläubige wie Ungläubige, Geistliche wie Laien, sind aufgerufen zu erkennen, daß das, was heute die Welt heimsucht, letztlich das Resultat einer weltweiten Entartung der Religion ist. Mit der das ablaufende Jahrhundert prägenden Entfremdung der Menschheit von Gott ist eine Beziehung zerbrochen, von der das Gefüge sittlichen Lebens abhängt. Die natürlichen Fähigkeiten der vernunftbegabten Seele, die so unverzichtbar sind für die Förderung und Bewahrung menschlicher Werte, sind weltweit abgewertet worden:
"Die Lebenskraft des Gottesglaubens stirbt aus in allen Landen. Nur Seine heilende Arznei kann sie jemals wiederherstellen. Der Schwamm der Gottlosigkeit frißt sich in das Mark der menschlichen Gesellschaft. Was außer dem Heiltrank Seiner machtvollen Offenbarung kann sie reinigen und neu beleben?... Das Wort Gottes allein kann für sich in Anspruch nehmen, zu einer so großen, so weitreichenden Wandlung fähig zu sein.." 97