Bahá'u'lláh - Eine Einführung - 3

Die Manifestationen Gottes

Allen großen Religionen ist die Überzeugung gemeinsam, daß die Menschenseele durch die göttliche Offenbarung mit der Welt Gottes in Berührung kommt und daß es diese Beziehung ist, die dem Leben Sinn gibt. Besonderen Stellenwert haben die Texte Bahá'u'lláhs, die sich ausführlich mit dem Wesen und der Rolle derer befassen, welche die Kanäle dieser Offenbarung sind, die Boten oder "Manifestationen Gottes". Immer wieder finden wir darin die Analogie mit der Sonne. Die Sonne hat zwar gewisse Eigenschaften mit den übrigen Himmelskörpern im Sonnensystem gemeinsam; im Unterschied zu diesen ist die Sonne aber der Lichtquell des Systems. Planeten und Monde reflektieren das Licht, während die Sonne es ausstrahlt - ein ihrem Wesen zugehöriges Attribut. Das Planetensystem kreist um diesen Brennpunkt; die Teile darin werden nicht nur von ihrer Eigenart, sondern vor allem von ihrer Beziehung zur Lichtquelle des Systems bestimmt. 44

Wie alle Sterblichen, hat auch die Manifestation Gottes eine menschliche Gestalt; sie unterscheidet sich indessen von anderen Menschen existentiell, so daß sie als Kanal und Medium der Offenbarung Gottes dienen kann. Scheinbar widersprüchliche Hinweise auf diese zweifache Stufe, wie sie zum Beispiel Christus 45 zugeschrieben werden, waren in der ganzen Geschichte die Ursache von Verwirrung und Streit. Bahá'u'lláh sagt dazu:
"Alles in den Himmeln und auf Erden ist unmittelbarer Beweis dafür, daß sich darin Gottes Attribute und Namen offenbaren... In höchstem Grade gilt dies für den Menschen, der unter allem Erschaffenen... für die Herrlichkeit einer solchen Auszeichnung auserkoren wurde. Denn in ihm sind alle Namen und Attribute Gottes potentiell in einem Maße offenbar, das von keinem erschaffenen Wesen übertroffen wird... Von allen Menschen die vollendetsten, die ausgezeichnetsten und überragendsten sind die Manifestationen der Sonne der Wahrheit. Ja, alles sonst lebt durch das Wirken ihres Willens; es bewegt sich und besteht durch das Ausströmen ihrer Gnade." 46

Zu allen Zeiten hatte die Überzeugung der Gläubigen, der Stifter ihrer Religion nehme eine einmalige Stellung ein, zur Folge, daß über das Wesen der Manifestation Gottes angestrengt spekuliert wurde. Erschwert wurden solche Spekulationen aber durch Deutungsprobleme, insbesondere bei den zahlreichen bildhaften Gleichnissen in den Heiligen Schriften der Vergangenheit. Der Versuch, die Anschauungen in die Form eines religiösen Dogmas zu gießen, hatte deshalb historisch eher eine spaltende als eine vereinende Kraft. Tatsächlich gibt es heute trotz der immensen Energie, die auf theologische Studien verwendet wird - vielleicht auch wegen dieses großen Energieaufwands -, tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten unter den Muslimen über die genaue Stufe Muammads, unter den Christen über Jesus und unter den Buddhisten über den Stifter ihrer Religion. Ganz offensichtlich sind die Kontroversen, zu denen
solche Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer bestimmten Tradition geführt haben, mindestens ebenso heftig wie die Kontroversen unter den verschiedenen Religionen.

Bahá'u'lláhs Lehre von der Einheit der Religionen wird besonders aus dem verständlich, was Er zur Stufe der aufeinanderfolgenden Gottesboten und zu ihrem Auftrag in der Geistesgeschichte der Menschheit gesagt hat: "Alle Manifestationen Gottes haben eine zweifache Stufe. Die eine ist die Stufe reiner Geistigkeit und Wesenseinheit. In dieser Hinsicht bist du, wenn du sie alle mit einem Namen benennst und ihnen die gleichen Eigenschaften zuschreibst, nicht von der Wahrheit abgeirrt...

Die andere Stufe ist die der Unterscheidung, sie gehört der Welt der Schöpfung und ihren Begrenzungen an. In dieser Hinsicht hat jede Manifestation Gottes eine ausgeprägte Individualität, eine genau vorgezeichnete Sendung, eine vorherbestimmte Offenbarung und besonders gegebene Begrenzungen. Eine jede von ihnen ist unter einem anderen Namen bekannt, durch ein anderes Attribut gekennzeichnet, mit einer bestimmten Mission und einer besonderen Offenbarung betraut... Im Lichte ihrer zweiten Stufe betrachtet,... legen sie unbedingte Dienstbarkeit, äußerste Armut und völlige Auslöschung des Selbstes an den Tag. So hat Er 47 gesprochen: ‚Ich bin der Diener Gottes, Ich bin nur ein Mensch wie ihr.' 48

Würde eine der allumfassenden Manifestationen Gottes erklären:
‚Ich bin Gott!', so spräche Sie gewiß die Wahrheit, und es gäbe darüber keinen Zweifel. Denn... durch ihre Offenbarung, ihre Eigenschaften und Namen sind die Offenbarung Gottes, Seine Namen und Seine Attribute in der Welt offenkundig gemacht... Würde einer von ihnen sagen: ‚Ich bin der Gesandte Gottes', so spräche Er gleichfalls die Wahrheit, die unzweifelhafte Wahrheit... In diesem Lichte gesehen, sind sie alle nur Gesandte jenes vollkommenen Königs, jener unwandelbaren Wesenheit... Und würden sie sagen: ‚Wir sind die Diener Gottes', so ist auch dies eine offenkundige, unbestreitbare Wahrheit. Denn sie haben sich im äußersten Zustand des Dienens offenbart, eines Dienens, wie es wohl kein Mensch je erreichen kann..." 49

"Damit ist, was immer sie sagen, ob es sich denn auf den Bereich der Gottheit, auf den Herrn, den Propheten, den Gottgesandten, den Hüter, den Apostel oder den Diener bezieht, ohne den Schatten eines Zweifels wahr. So müssen diese Verse... aufmerksam bedacht werden, damit die voneinander abweichenden Aussagen der Manifestationen des Unsichtbaren und der Morgenröten der Heiligkeit nicht länger die Seele erregen und den Geist verwirren." 50

"Eine ständig fortschreitende Kultur..."

Diesen Texten liegt eine Weltschau zugrunde, die der herausforderndste Aspekt dessen ist, was Bahá'u'lláh zum Auftrag der Manifestationen Gottes sagt: Göttliche Offenbarung ist die Triebkraft der Kultur. Bei jeder neuen Offenbarung verwandelt der göttliche Kraftstrom zunächst Geist und Seele derer, die auf ihren Ruf antworten, und nach und nach auch die Gesellschaft, die durch die Erfahrung der neuen Gläubigen neu gestaltet wird. Ein neues Loyalitätszentrum entsteht, dem sich Völker aus unterschiedlichsten Kulturen verpflichtet fühlen. Die Künste machen sich Symbole zu eigen, die reichere, reifere Inspirationen vermitteln. Eine radikale Neudefinition der Kategorien von Gut und Böse führt zur Formulierung neuer Rechts- und Verhaltensregeln. Neue Institutionen werden entworfen, so daß Aspekte sittlicher Verantwortung, die man früher nicht kannte oder übersah, formuliert werden können: Das Wort Gottes "war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht."51 In dem Maße, wie sich die neue Kultur entwickelt, nimmt sie Erkenntnisse und Einsichten vergangener Epochen in einer Vielfalt immer neuer Gestaltungen auf. Elemente alter Kulturen, die nicht assimiliert werden, verschwinden oder bleiben in gesellschaftlichen Randgruppen erhalten. Das Wort Gottes schafft einen neuen Horizont für das Bewußtsein des einzelnen und für sein Verhältnis zu den Menschen. "Ein jegliches Wort, das aus dem Munde Gottes hervorgeht, ist mit solcher Kraft versehen, daß es jeder menschlichen Gestalt neues Leben einflößen kann... Alle wunderbaren Werke, die ihr in dieser Welt seht, sind durch das Wirken Seines höchsten, erhabensten Willens, Seines wunderbaren, unerschütterlichen Planes offenbart... Kaum wird dieses strahlende Wort geäußert, da bringen seine belebenden, in allem Erschaffenen wirkenden Kräfte die Mittel hervor, die solche Künste schaffen und zur Vollendung bringen... In künftigen Tagen werdet ihr wahrlich Dinge sehen, von denen ihr nie zuvor gehört habt... Jeder Buchstabe, der aus dem Munde Gottes hervorgeht, ist in Wahrheit ein Urbuchstabe, jedes von Ihm, dem Urquell göttlicher Offenbarung, gesprochene Wort ist ein Urwort..." 52

Die Aufeinanderfolge göttlicher Offenbarungen, versichert Bahá'u'lláh, ist, wie schon der Báb formulierte, "ein Ablauf ohne Anfang und ohne Ende" 53. Ist der Auftrag einer Manifestation Gottes auch zeitlich und inhaltlich begrenzt, so ist sie doch integraler Bestandteil einer stetig fortschreitenden Entfaltung des machtvollen Willens Gottes:
"Betrachte mit deinem inneren Auge die Kette der aufeinander folgenden Offenbarungen, die die Manifestation Adams mit der des Báb verbindet. Ich bezeuge vor Gott, daß jede dieser Manifestationen durch das Wirken des göttlichen Willens und Heilsplanes herabgesandt wurde, daß jede Träger einer besonderen Botschaft war, daß jede mit einem göttlich offenbarten Buche betraut... war... Das jeder Offenbarung eigene Maß war genau vorherbestimmt..."54

Wenn die geistigen Quellen einer stetig fortschreitenden Kultur erschöpft sind, dann beginnt, wie überall in der Erscheinungswelt, ein Prozeß der Auflösung. Bahá'u'lláh wendet sich auch hier den in der Natur zu findenden Analogien zu und vergleicht diesen Hiatus der Kulturentwicklung mit dem Anbruch des Winters. Die sittlichen Lebenskräfte versiegen, die Bande, welche die Gesellschaft zusammenhalten, werden schwächer. Probleme, die in früheren Zeiten gemeistert wurden und zu neuen Erkenntnissen und Errungenschaften führten, werden jetzt zu unüberwindbaren Hindernissen. Die Religion verliert ihre Relevanz, Problemlösungen werden immer fragmentarischer und vertiefen die gesellschaftlichen Gräben. Die Ungewißheit über den Sinn und den Wert des Lebens führt mehr und mehr zu Angst und Verwirrung. Von dieser Situation in unserer Zeit spricht Bahá'u'lláh:
"Wir nehmen sehr wohl wahr, wie das ganze Menschengeschlecht von großen, unberechenbaren Drangsalen umgeben ist. Wir sehen es auf seinem Krankenlager dahinsiechen, schwer geprüft und enttäuscht. Jene, die von Eigendünkel trunken sind, haben sich zwischen die Menschen und den göttlichen, unfehlbaren Arzt gedrängt. Sieh, wie sie alle Menschen, sich selbst eingeschlossen, in das Netzwerk ihrer List verstrickt haben. Sie können weder die Ursache der Krankheit erkennen noch haben sie die geringste Kenntnis von der Arznei. Sie halten das Gerade für krumm und wähnen, ihr Freund sei ihr Feind." 55

Wenn sich die göttlichen Impulse erfüllt haben, setzt der Prozeß von neuem ein. Eine neue Manifestation Gottes erscheint mit einem noch reicheren Maß göttlicher Eingebung für die nächste Stufe in der Erweckung und Kultivierung der Menschheit:
"Sieh die Stunde, da die höchste Manifestation Gottes sich den Menschen enthüllt. Ehe diese Stunde kommt, ist das Altehrwürdige Sein, das den Menschen noch unbekannt ist und das Wort Gottes noch nicht ausgesprochen hat, selbst der Allwissende in einer Welt ohne Menschen, die Ihn erkannt hätten. Er ist wahrlich Schöpfer ohne Schöpfung. Denn in dem Augenblick, der Seiner Offenbarung vorausgeht, wird alles Erschaffene veranlaßt, seine Seele zu Gott aufzugeben. Dies ist wahrlich der Tag, von dem geschrieben steht: ‚Wessen soll das Reich an diesem Tage sein?' Und niemand ist bereit, darauf zu antworten!" 56

Bis ein Teil der Menschheit auf die neue Offenbarung antwortet, bis ein neues geistig-gesellschaftliches Paradigma Gestalt anzunehmen beginnt, fristen die Menschen ihr geistig-sittliches Leben mit den letzten Spuren der früheren göttlichen Stiftungen. Die Tagesroutine der Gesellschaft geht weiter oder auch nicht, die Gesetze werden befolgt oder verspottet, gesellschaftliche und politische Experimente werden eingeleitet oder scheitern, aber die Wurzeln des Glaubens, ohne den keine Gesellschaft auf Dauer weiterbestehen kann, sind erschöpft. Am "Ende der Zeit", am "Ende der Welt" wenden sich die geistig Gesinnten nach und nach wieder der schöpferischen Quelle zu. Wie unbeholfen und verwirrend dieser Prozeß auch anmutet, wie bizarr und verhängnisvoll manche in Betracht gezogenen Optionen auch erscheinen, spiegelt sich doch in dieser Suche die instinktive Erkenntnis, daß sich vor der Menschheit ein tiefer Abgrund auftut. 57 Die Wirkungen der neuen Offenbarung sind, Bahá'u'lláh zufolge, allumfassend, nicht auf Leben und Lehre der Manifestation Gottes beschränkt; diese ist gleichwohl der Brennpunkt dieser Offenbarung. Auch unverstanden durchdringen solche Wirkungen zunehmend die Menschenwelt, legen die Widersprüche der Gesellschaft und ihrer allseits akzeptierten Prämissen offen und verstärken die Suche nach einem umfassenden Verständnis.
Fortschreitende Gottesoffenbarung ist eine Dimension menschlicher Existenz und wird es, wie Bahá'u'lláh erklärt, bleiben, solange die Welt besteht:
"Gott hat Seine Boten herniedergesandt, damit sie auf Moses und Jesus folgten, und Er wird fortfahren, so zu tun bis an das ‚Ende, das kein Ende hat'..." 58

Der Tag Gottes

Welches Entwicklungsziel sieht Bahá'u'lláh für den Menschen? Unter dem Blickwinkel der Ewigkeit sollte sein Sinn darin bestehen, daß Gott Seine Vollkommenheiten immer klarer im Spiegel Seiner Schöpfung widergespiegelt sieht und es so - in Bahá'u'lláhs Worten - "...jedem Menschen ermöglicht, in sich, durch sich und durch die Stufe der Manifestation seines Herrn zu bezeugen, daß in Wahrheit kein Gott außer Ihm ist, und daß auf diese Weise jedermann seinen Weg zu den Gipfeln der Wirklichkeit finden kann, bis niemand mehr etwas betrachtet, er sähe denn Gott darin." 59 Im Kontext der Weltgeschichte hat die Abfolge göttlicher Manifestationen das Ziel, das Denken und das Bewußtsein des Menschen vorzubereiten auf die Vereinigung des ganzen Menschengeschlechts, eines einzigen Organismus, der die Verantwortung für seine kollektive Zukunft zu übernehmen in der Lage ist:
"Er, der euer Herr ist, der Allerbarmer, hegt in Seinem Herzen die Sehnsucht, das ganze Menschengeschlecht als eine Seele und einen Leib zu sehen." 60

Nicht ehe die Menschheit ihre organische Einheit annimmt, kann sie die nächstliegenden Herausforderungen meistern, geschweige denn die künftigen. Bahá'u'lláh besteht darauf, daß "die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit" unerreichbar sind, "ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist" 61. Nur eine vereinte Weltgesellschaft kann ihre Angehörigen mit dem tiefen Gefühl der Gewißheit ausstatten, das Bahá'u'lláh in einem Seiner Gebete anklingen läßt:
"Was immer Du Deinen Dienern geboten hast, damit sie Deine Majestät und Herrlichkeit aufs höchste preisen, ist nur ein Zeichen Deiner Gnade für sie, auf daß sie fähig werden, zu der Stufe aufzusteigen, die ihrem innersten Wesen verliehen wurde, der Stufe der Erkenntnis ihres eigenen Selbstes."62

Paradoxerweise kann die Menschheit nur dann ihre Vielfalt und Individualität voll kultivieren, wenn sie ihre Einheit erlangt. Dieses Ziel herbeizuführen, den Tag, da "eine Herde und ein Hirte" 63 sein werden, war die Mission aller Manifestationen, soweit die Geschichte von ihnen zeugt. Die Menschheit, sagt Bahá'u'lláh, ist unterwegs zu diesem Ziel, das eine neue Stufe menschlicher Kultur eröffnet. Eine der eindrucksvollsten Analogien im Schrifttum Bahá'u'lláhs, aber auch schon in den Schriften des Báb, ist die zwischen der Phylogenese der Menschheit und der Entwicklung des einzelnen Menschen. Die Menschheit durchlief in ihrer Stammesgeschichte Stufen, die an das Säuglingsalter, die Kindheit und die Jugendzeit des einzelnen Menschen erinnern. Heute erleben wir den Beginn unserer kollektiven Reife, die Fähigkeiten und Möglichkeiten in sich birgt, die wir heute noch kaum erahnen. 64

Vor diesem Hintergrund verstehen wir unschwer den Vorrang, den Bahá'u'lláh dem Grundsatz der Einheit gibt. Die Einheit der Menschheit ist das Leitmotiv des jetzt beginnenden Zeitalters: Sie ist die Elle, an der alle Pläne zur Besserung der Welt gemessen werden müssen. Es gibt, darauf beharrt Bahá'u'lláh, nur eine Spezies Mensch; überlieferte Vorstellungen, eine besondere rassische oder völkische Gruppe sei in irgendeiner Hinsicht dem Rest der Menschheit überlegen, sind bar jeder Grundlage. Und da alle Gottesboten Repräsentanten des einen göttlichen Willens waren, sind ihre Offenbarungen das kollektive Erbe der ganzen Menschheit. Jeder Mensch auf Erden ist rechtmäßiger Erbe dieser geistigen Überlieferung. Auf Vorurteilen welcher Art auch immer zu beharren, schädigt die Interessen der Gesellschaft und verstößt gegen den Willen Gottes für unser Zeitalter:
"O ihr streitenden Völker und Geschlechter der Erde! Wendet euer Angesicht der Einheit zu und laßt euch vom Glanz ihres Lichtes bescheinen. Versammelt euch und beschließt um Gottes willen, alles zu tilgen, was zum Streit unter euch führt... Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle. Sie sind einem einzigen Gott untertan. Unterschiede der Regeln und Riten, denen sie folgen, müssen den wechselnden Erfordernissen und Bedürfnissen der Zeitalter zugeschrieben werden, in denen sie offenbart wurden. Alle bis auf wenige, die aus menschlichen Launen entstanden, wurden von Gott verfügt und sind eine Widerspiegelung Seines Willens und Zieles. Erhebt euch und schlagt, bewaffnet mit der Kraft des Glaubens, die Götzen eures leeren Wahns in Stücke, die Zwietracht unter euch säen..." 65
Das Thema Einheit zieht sich durch das ganze Schrifttum Bahá'u'lláhs:
"Das Heiligtum der Einheit ist errichtet; betrachtet einander nicht als Fremde." 66
"Verkehret mit den Anhängern aller Religionen im Geiste des Wohlwollens und der Brüderlichkeit." 67 "Ihr seid die Früchte eines Baumes, die Blätter eines Zweiges." 68

Der Reifeprozeß der Menschheit vollzieht sich in der Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Strukturen. Beginnend mit der Familie hat die Menschenwelt mit unterschiedlichem Erfolg Gesellschaftsformen entwickelt, die auf die Sippe, den Volksstamm, die Stadt und in neuerer Zeit die Nation gegründet sind. In der immer größeren Komplexität politischer Strukturen findet der Mensch Anregung und Raum zur Entfaltung seines Potentials, und diese Entwicklung hat wiederum Rückwirkungen auf die Gesellschaft. Die Reife der Menschheit muß deshalb eine völlige Umgestaltung der Gesellschaftsordnung nach sich ziehen. Die neue Gesellschaft muß die ganze Vielfalt des Menschengeschlechts umfassen und aus der Fülle geistiger Gaben und Erkenntnisse Nutzen ziehen, die in einer Jahrtausende währenden kulturellen Erfahrung herangebildet worden sind:
"Dies ist der Tag, da Gottes erhabenste Segnungen den Menschen zugeströmt sind, der Tag, da alles Erschaffene mit Seiner mächtigsten Gnade erfüllt wurde. Alle Völker der Welt haben die Pflicht, ihre Gegensätze auszugleichen und in größter Eintracht und in Frieden im Schatten des Baumes Seiner Obhut und Gnade zu wohnen... Bald wird die heutige Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet werden. Wahrlich, dein Herr spricht die Wahrheit, und Er weiß um das Ungeschaute." 69

Das Hauptwerkzeug für die Verwandlung der Gesellschaft und die Schaffung der Welteinheit ist, wie Bahá'u'lláh versichert, die Gerechtigkeit. Sie muß in allen Lebensbereichen herrschen. Dieses Thema hat in Seinen Lehren eine zentrale Stellung:
"Der Menschen Licht ist die Gerechtigkeit. Löscht es nicht durch die Stürme der Unterdrückung und der Tyrannei. Der Zweck der Gerechtigkeit ist die Stiftung von Einheit unter den Menschen. Das Meer göttlicher Weisheit wogt in diesem erhabenen Wort, und alle Bücher der Welt können seine innere Bedeutung nicht fassen..." 70

In Seinen späteren Schriften verdeutlicht Bahá'u'lláh, was dieser Grundsatz für das Reifezeitalter der Menschheit konkret bedeutet: "Im Angesicht Gottes waren Frauen und Männer von jeher gleich und werden es immer sein."71 Eine fortschreitende Kultur verlangt von der Gesellschaft Strukturen, die dieser Tatsache voll Rechnung tragen. Die materiellen Ressourcen der Erde sind das Eigentum der ganzen Menschheit und nicht einzelner Völker. Unterschiedliche Beiträge zum wirtschaftlichen Gemeinwohl verdienen ein verschiedenes Maß an Lohn und Anerkennung; was aber beseitigt werden muß, ist ein Übermaß an Reichtum und ein Übermaß an Armut, von dem die meisten Länder auf Erden heimgesucht werden, gleich, welcher Wirtschafts- und Gesellschaftslehre sie anhängen.