Bahá'u'lláh - Eine Einführung - 2

Die Verkündigung im Garten Riván

Im Jahre 1863 hielt Bahá'u'lláh die Zeit für gekommen, einige Seiner Gefährten mit Seiner Sendung vertraut zu machen, die Er im Dunkel des Síyáh-Chál empfangen hatte. Dieser Entschluß Bahá'u'lláhs fiel zusammen mit einer weiteren Eskalation der schonungslosen Kampagne, welche schiitische Geistliche und Vertreter der persischen Regierung gegen Sein Werk entfachten. Aus Furcht, die unverhohlene Zustimmung, die Bahá'u'lláh unter einflußreichen Besuchern aus Persien fand, fache in Persien die Begeisterung des Volkes erneut an, drängte die Regierung des Schahs die osmanischen Behörden, Bahá'u'lláh weiter weg von der Grenze ins Innere ihres Reiches zu verlegen. Schließlich gab die türkische Regierung diesem Druck nach und lud den Verbannten ein, als ihr Gast Seinen Wohnsitz in die Hauptstadt, nach Konstantinopel, zu verlegen. Trotz der höflichen Formulierung war das Schreiben so gehalten, daß ihm widerspruchslos Folge zu leisten war. 19

Schon damals war die ganze Hingabe der kleinen Exilgemeinde auf Bahá'u'lláh gerichtet. Viele waren bereits überzeugt, daß Er nicht nur als Protagonist des Báb auftrat, sondern für die viel größere Sache, die - wie vom Báb angekündigt - unmittelbar bevorstand. Diese Überzeugungen wurden Ende April 1863 zur Gewißheit, als Bahá'u'lláh am Vorabend Seiner Abreise nach Konstantinopel einzelne Gefährten in einem Garten, der später den Namen Riván ("Paradies") erhielt, zusammenrief und ihnen Seine Mission eröffnete. Auch wenn in den folgenden vier Jahren eine öffentliche Verkündigung nicht ratsam schien, überbrachten die Eingeweihten doch nach und nach ihren vertrauten Freunden die Botschaft, daß die Verheißung des Báb erfüllt und der "Tag Gottes" angebrochen war.

Die genauen Umstände dieser vertraulichen Eröffnung sind, wie es ein Kenner dieser Zeit formuliert, "in ein Dunkel gehüllt, das künftige Geschichtsschreiber nur schwer werden durchdringen können" 20.

Die Bedeutung dieses Geschehnisses läßt sich zahlreichen Hinweisen Bahá'u'lláhs in späteren Schriften entnehmen:

"Die Absicht, die der ganzen Schöpfung zugrundeliegt, ist die Offenbarung dieses erhabensten, dieses heiligsten Tages, des Tages, der als der Tag Gottes in Seinen Büchern und Schriften bekannt ist - der Tag, den alle Propheten, die Auserwählten und die Heiligen miterleben wollten." 21

"... Dies ist der Tag, an dem die Menschheit das Angesicht des Verheißenen schauen und Seine Stimme hören kann. Gottes Ruf ist erhoben, und das Licht Seines Antlitzes ist über den Menschen aufgegangen. Ein jeder sollte die Spuren jedes eitlen Wortes von der Tafel seines Herzens löschen und mit offenem, unvoreingenommenem Sinn fest auf die Zeichen Seiner Offenbarung, die Beweise Seiner Sendung und die Zeichen Seiner Herrlichkeit schauen." 22

Wie Bahá'u'lláh in Erläuterung der Schriften des Báb vielfach betont, ist der Hauptzweck der Offenbarung, den Charakter der Menschen zu wandeln, das heißt, bei denen, die auf Seinen Ruf antworten, die in der menschlichen Natur latenten sittlich-geistigen Tugenden zu entwickeln:

"Veredelt euere Zunge durch Wahrhaftigkeit, o Menschen, und ziert euere Seele mit dem Schmuck der Ehrlichkeit. Hütet euch, o Menschen, daß ihr nicht gegen jemanden falsch seid. Seid Gottes Treuhänder unter Seinen Geschöpfen und die Wahrzeichen Seiner Großmut unter Seinem Volke..." 23

"Erleuchtet und heiligt euere Herzen. Entweiht sie nicht mit den Dornen des Hasses und den Disteln der Bosheit. Ihr wohnt in einer Welt und seid durch das Wirken eines Willens erschaffen. Selig ist, wer sich mit allen Menschen im Geiste größter Freundlichkeit und Liebe vereinigt." 24

Aggressive Proselytenmacherei, die in früheren Zeiten immer wieder die religiöse Mission kennzeichnete, ist des Tages Gottes erklärtermaßen unwürdig. Wer Gottes Offenbarung erkennt, soll die an dieser Erkenntnis teilhaben lassen, die er für Sucher hält, es aber ihnen selbst überlassen, wie sie auf diesen Anruf reagieren:

"Erweist einander Langmut, Wohlwollen und Liebe. So jemand unter euch eine bestimmte Wahrheit nicht zu erfassen vermag oder sich um ihr Verständnis bemüht, so sprecht mit ihm voller Güte und in bester Absicht." 25

"Die ganze Pflicht des Menschen liegt an diesem Tage darin, seinen Teil an der Gnadenfülle zu erlangen, die Gott für ihn strömen läßt. Deshalb sollte niemand der Größe des Gefäßes achten..." 26

Vor dem Hintergrund der blutigen Geschehnisse in Persien kündet Bahá'u'lláh Seinen Anhängern: "Es ist besser für euch, getötet zu werden, als selbst zu töten"; ja, Er drängt sie sogar, den Behörden Musterbeispiele des Gehorsams zu liefern:

"Die Angehörigen dieses Volkes müssen sich, wo immer sie wohnen, der Regierung des Landes als treu, ehrbar und wahrhaftig erweisen." 27

Die Verhältnisse bei Bahá'u'lláhs Abreise aus Bagdad demonstrierten anschaulich die Macht dieser Grundsätze. In wenigen Jahren war eine Schar verbannter Ausländer, die bei ihrer Ankunft auf den Argwohn und die Ablehnung ihrer Nachbarn gestoßen waren, zu einer höchst angesehenen, einflußreichen Bevölkerungsgruppe geworden. Sie waren wirtschaftlich unabhängig durch ihre erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Wegen ihrer Großzügigkeit und Integrität wurden sie bewundert. Die von persischen Konsulatsbeamten und schiitischen Klerikern emsig ausgestreuten Vorwürfe, sie seien fanatisch und gewalttätig, hatten keinen Einfluß mehr auf die öffentliche Meinung. Als Bahá'u'lláh am 3. Mai 1863 in Begleitung Seiner Familie und der Gefährten, die mit Ihm nach Konstantinopel reisen sollten, aus Bagdad wegritt, war Er eine populäre, allgemein verehrte Gestalt. In den Tagen vor diesem Abschied war ein ganzer Strom von Honoratioren, unter ihnen der Provinzgouverneur, viele von weither, in den Garten gekommen, in dem Er vorübergehend Wohnung genommen hatte, um Ihm ihre Reverenz zu erweisen. Augenzeugen der Abreise beschrieben in bewegenden Worten die jubelnden Zurufe, die Tränen in den Augen vieler Zuschauer und die Beflissenheit der osmanischen Beamten und Dienststellen, ihrem Staatsgast Ehre zu erweisen. 28

"Gottes unwandelbarer Glaube"

Nach der Bekanntgabe Seiner Sendung im Jahre 1863 begann Bahá'u'lláh ein Thema zu vertiefen, das Er bereits im Buch der Gewißheit behandelt hatte: der Wille Gottes als die gestaltende Macht in dem Entwicklungsprozeß der latenten geistig-sittlichen Fähigkeiten im Menschen. Dieses Thema nimmt während der verbleibenden dreißig Jahre Seines Lebens in Seinen Schriften eine zentrale Stellung ein. Die Wirklichkeit Gottes, versichert Er, ist und bleibt unerforschlich. Menschliche Rede über das Wesen Gottes ist Ausdruck menschlicher Existenz, das Resultat menschlichen Bemühens, menschliche Erfahrungen zu beschreiben:

"Fern, fern von Deiner Herrlichkeit sei, was der sterbliche Mensch von Dir aussagen oder Dir zuschreiben kann, oder der Lobpreis, mit dem er Dich zu verherrlichen vermag! Was immer Du Deinen Dienern geboten hast, damit sie Deine Majestät und Herrlichkeit aufs höchste preisen, ist nur ein Zeichen Deiner Gnade für sie, auf daß sie fähig werden, zu der Stufe aufzusteigen, die ihrem innersten Wesen verliehen wurde, der Stufe der Erkenntnis ihres eigenen Selbstes." 29

"Jedem verständigen, erleuchteten Herzen ist es offenbar, daß Gott, die unerforschliche Wesenheit, das göttliche Sein, unermeßlich erhaben ist über alle menschlichen Merkmale wie leibliche Existenz, Aufstieg und Abstieg, Ausgang und Rückkehr. Fern sei es Seiner Herrlichkeit, daß des Menschen Zunge angemessen Sein Lob künden oder des Menschen Herz Sein unergründliches Mysterium erfassen könnte. Er ist und war von jeher in der altehrwürdigen Ewigkeit Seines Wesens verhüllt und wird in Seiner Wirklichkeit dem Schauen der Menschen ewiglich verborgen bleiben..." 30

Wenn der Mensch sich dem Schöpfer allen Seins zuwendet, sind es nur dessen Attribute und Eigenschaften, die ihm in den wiederkehrenden Offenbarungen begegnen:

"So ist das Tor der Erkenntnis des Altehrwürdigen der Tage vor dem Antlitz aller Wesen verschlossen. Darum hat der Quell unendlicher Gnade... jene leuchtenden Edelsteine der Heiligkeit aus dem Reiche des Geistes in der edlen Gestalt des menschlichen Tempels erscheinen und allen Menschen offenbar werden lassen, auf daß sie der Welt die Mysterien des unveränderlichen Seins schenken und ihr von Seinem reinen, unsterblichen Wesen künden." 31

"Diese geheiligten Spiegel... sind allesamt auf Erden die Vertreter dessen, der innerster Kern, reinstes Wesen und letztes Ziel des Weltalls ist. Von Ihm gehen ihre Erkenntnis und Macht aus, von Ihm leitet sich ihre Souveränität ab. Die Schönheit ihres Antlitzes ist nur eine Widerspiegelung Seines Bildes, ihre Offenbarung ein Zeichen Seiner unsterblichen Herrlichkeit." 32

Auch wenn der Wandel der Verhältnisse auf Erden und die unterschiedlichen Erfordernisse der Zeit in jeder Offenbarung eine einmalige Antwort gefunden haben, unterscheiden sich die Offenbarungen Gottes in ihrem Wesen nicht:

"Diese Attribute Gottes waren niemals bestimmten Propheten verliehen und anderen vorenthalten. Nein, alle Propheten Gottes, Seine wohlbegnadeten, Seine heiligen und erwählten Boten, sind ohne Ausnahme die Träger Seiner Namen und die Verkörperungen Seiner Attribute. Sie unterscheiden sich nur in der Stärke ihrer Offenbarung und in der Wirkkraft ihres Lichtes." 33

Wer sich mit den Religionen befaßt, wird gewarnt, sich nicht von theologischer Dogmatik oder anderen vorgefaßten Denkschemen dazu verführen zu lassen, daß er zwischen denen Rangunterschiede macht, die Gott zu Kanälen Seines Lichtes erkoren hat:

"Hütet euch, o ihr, die ihr an die Einheit Gottes glaubt, daß ihr nicht versucht werdet, Unterschiede zwischen den Manifestationen Seiner Sache zu machen oder die Zeichen herabzusetzen, die mit ihrer Offenbarung einhergingen und diese verkündet haben. Dies ist fürwahr die wahre Bedeutung göttlicher Einheit, gehörtet ihr doch zu denen, die diese Wahrheit verstehen und an sie glauben! Seid überdies versichert, daß die Werke und das Handeln aller Manifestationen Gottes, ja alles, was immer sie betrifft und was sie in der Zukunft verkünden mögen, von Gott bestimmt und eine Widerspiegelung Seines Willens und Seiner Absicht sind." 34

Bahá'u'lláh vergleicht den Einbruch der göttlichen Offenbarung mit der Wiederkehr des Frühlings. Die Gottesboten sind nicht nur Lehrer, auch wenn dies eine ihrer höchsten Aufgaben ist. Der Geist ihrer Worte und das Beispiel ihres Lebens vermögen vielmehr die tiefsten Quellen menschlicher Motivation zu erschließen und grundlegenden, dauerhaften Wandel zu schaffen. Der Einfluß ihres göttlichen Wortes eröffnet neue Welten des Verstehens und der Tat:

"Und da es kein Band unmittelbaren Verkehrs geben kann, das den einen wahren Gott an Seine Schöpfung bindet, da keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen, dem Bedingten und dem Absoluten bestehen kann, hat Er bestimmt, daß in jedem Zeitalter und in jeder Sendung eine reine, unbefleckte Seele in den Reichen von Erde und Himmel offenbar werde... Vom Lichte unfehlbarer Führung geleitet, ausgestattet mit höchster Souveränität, haben sie 35 den Auftrag, sich des belebenden Einflusses ihres Wortes, der Ausgießungen ihrer unfehlbaren Gnade, des heiligenden Hauches ihrer Offenbarung zu bedienen, um ein jedes sich sehnende Herz, jeden empfänglichen Geist vom Schmutz und Staub irdischer Sorgen und Beschränkungen zu reinigen. Dann und nur dann wird das von Gott anvertraute Pfand, das in der Wirklichkeit des Menschen ruht,... hervortreten und das Banner seiner offenbaren Herrlichkeit hoch auf den Gipfeln der Menschenherzen aufrichten." 36

Ohne diesen Einbruch der Transzendenz bleibt der Mensch der Gefangene von Instinkten und kulturellen Prägungen:

"Nachdem Er 37 die Welt und alles, was darin lebt und webt, erschaffen hatte, wünschte Er... dem Menschen die einzigartige Auszeichnung und Fähigkeit zu verleihen, Ihn zu erkennen und zu lieben - eine Fähigkeit, die man als den der gesamten Schöpfung zugrunde liegenden schöpferischen Antrieb und Hauptzweck ansehen muß... Auf die innerste Wirklichkeit jedes erschaffenen Dings hat Er das Licht eines Seiner Namen ergossen; jedes hat Er zum Empfänger der Herrlichkeit einer Seiner Eigenschaften gemacht. Die Wirklichkeit des Menschen jedoch hat Er zum Brennpunkt für das Strahlen aller Seiner Namen und Attribute und zum Spiegel Seines eigenen Selbstes erkoren. Von allem Erschaffenen ist allein der Mensch zu einer so großen Gunst, einer so dauerhaften Gabe auserwählt. Diese Kräfte, welche... die Quelle himmlischer Führung der Wirklichkeit des Menschen verliehen hat, sind jedoch latent in ihm, gleichwie die Flamme in der Kerze verborgen und das Licht potentiell in der Lampe ist. Der Glanz dieser Kräfte kann durch weltliche Wünsche verdunkelt werden, wie das Licht der Sonne unter dem Staub und Schmutz, die den Spiegel bedecken, verborgen bleiben kann. Weder die Kerze noch die Lampe können durch eigenes Streben und ohne Hilfe entzündet werden, noch ist es dem Spiegel jemals möglich, sich selbst von seinem Schmutze zu befreien. Es bedarf keines Beweises, daß die Lampe niemals brennen wird, ehe ein Feuer in ihr entzündet ist, und der Spiegel niemals das Bild der Sonne wiedergeben noch ihr Licht und ihren Glanz widerspiegeln kann, ehe nicht der Schmutz von seiner Oberfläche entfernt ist." 38

Bahá'u'lláh sagt, daß die Zeit gekommen ist, da die Menschheit die Fähigkeit wie auch die Möglichkeit hat, das ganze Panorama ihrer geistigen Entwicklung als einen einzigen Prozeß zu erkennen: "Unvergleichlich ist dieser Tag, denn er ist wie das Auge für vergangene Zeitalter und Jahrhunderte und wie ein Licht in der Finsternis der Zeiten."39 So gesehen, müssen die Anhänger der verschiedenen religiösen Traditionen verstehen lernen, was Bahá'u'lláh den "unwandelbaren Glauben Gottes"40 nennt; sie sollten den zentralen geistigen Impuls unterscheiden von den sich wandelnden Gesetzen und Ideen, die offenbart sind gemäß den Erfordernissen einer sich ständig entwickelnden Gesellschaft:

"Die Propheten Gottes gleichen Ärzten, deren Aufgabe es ist, das Wohlergehen der Welt und ihrer Völker zu fördern, damit sie durch den Geist der Einheit das Siechtum einer entzweiten Menschheit zu heilen vermögen... Was Wunder, wenn die von dem Arzt verordnete Behandlung an diesem Tage nicht dieselbe ist wie die, die er früher verordnet hat. Wie könnte es anders sein, wenn die Übel, die den Leidenden befallen, in jedem Stadium seiner Krankheit eine besondere Arznei erfordern? So fordern auch die Propheten Gottes immer, wenn sie die Welt mit dem Strahlenglanz der Sonne göttlichen Wissens erleuchten, die Menschen auf, das Licht Gottes anzunehmen - mit Mitteln, die am besten dem Gebot der Zeit entsprechen, in der sie erscheinen." 41

Nicht nur das Herz, auch der Verstand muß sich auf diesen Weg des Forschens begeben. Die Vernunft, betont Bahá'u'lláh, ist die größte Gottesgabe für die Menschenseele, "ein Zeichen der Offenbarung... des souveränen Herrn" 42. Nur wenn der Verstand sich freimacht von ererbten dogmatischen Lehrsätzen, seien sie religiös oder materialistisch, kann er die Beziehung zwischen dem Wort Gottes und der Erfahrung der Menschheit unabhängig erforschen. Haupthindernis bei dieser Wahrheitssuche ist das Vorurteil:

"Warne... die Geliebten des einen wahren Gottes davor, die Reden und Schriften der Menschen mit einem zu kritischen Auge zu betrachten. Sie sollen sich diesen Reden und Schriften lieber im Geiste der Aufgeschlossenheit und liebevollen Wohlgesonnenheit zuwenden." 43