Eine Bahá'í-Sicht auf religiöse Vorurteile

Das Universale Haus der Gerechtigkeit
[An einen einzelnen Gläubigen]
27. Dezember 2017

Lieber Bahá’í-Freund,

das Universale Haus der Gerechtigkeit hat Ihr E-Mail-Schreiben vom 24. März 2017 erhalten ... bezüglich der an Sie gerichteten Frage, welchen Standpunkt die Bahá’í-Gemeinde im Hinblick auf religiöse Vorurteile vertritt, und was sie unternimmt, um dieses weltweite Thema anzugehen. Wir wurden gebeten, Ihnen die folgenden Anmerkungen zu übermitteln, die hoffentlich für Ihre Antwort hilfreich sein werden.

Die Bahá’í-Lehren verkünden unmissverständlich die wesenhafte Einheit Gottes und die Einheit aller Religionen. „Ohne Zweifel“, bekräftigt Bahá’u’lláh, „verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan.“

Er erklärt, dass die Stifter der Weltreligionen, die großen universellen Erzieher der Menschheit, das gemeinsame Ziel haben, die Menschheit zu vereinen und den kulturellen Fortschritt sicherzustellen, dass „sie alle im selben Heiligtum wohnen, sich zum selben Himmel aufschwingen, auf demselben Throne sitzen, dieselbe Sprache sprechen und denselben Glauben verkünden.“ Er fordert die Völker der Welt auf, „mit den Anhängern aller Religionen im Geiste des Wohlwollens und der Brüderlichkeit“ zu verkehren.

Und Er führt weiter aus:

Dass den verschiedenen Gemeinschaften der Erde und den mannigfaltigen religiösen Glaubenssystemen niemals erlaubt sein sollte, feindselige Gefühle unter den Menschen zu nähren, gehört an diesem Tage zum Wesen des Glaubens Gottes und Seiner Religion. Diese Grundsätze und Gesetze, diese fest begründeten, machtvollen Systeme entspringen einer einzigen Quelle und sind die Strahlen desselben Lichtes. Dass sie voneinander abweichen, ist den unterschiedlichen Erfordernissen der Zeitalter zuzuschreiben, in denen sie verkündet wurden.

Zugleich warnt Bahá’u’lláh nachdrücklich vor den schädlichen Auswirkungen religiöser Vorurteile und stellt fest: „Religiöser Fanatismus und Hass sind ein weltverzehrendes Feuer, dessen Gewalt niemand löschen kann. Nur die Hand göttlicher Macht kann die Menschen von dieser verheerenden Plage erlösen.“ Er fordert die Bahá’í auf, „den Sturm religiösen Haders, der die Völker der Erde erregt, zum Schweigen zu bringen und jede Spur davon zu tilgen.“

‘Abdu’l-Bahá betont: „Die göttlichen Religionen müssen Einheit unter den Menschen bewirken, als Mittel zu Einigkeit und Liebe dienen. Sie müssen den Weltfrieden verkünden, den Menschen von allen Vorurteilen befreien, Freude und Frohsinn spenden, Güte gegenüber allen Menschen üben und alle Unterschiede beiseite räumen.“

Er merkt außerdem an, dass „Religion zu Freundschaft und Liebe führen muss. Bewirkt sie Entfremdung, dann bedarf man ihrer nicht; denn Religion ist wie eine Arznei: Verschlimmert sie das Leiden, dann wird sie unnötig.“ Der Zweck wahrer Religion besteht also darin, gute Früchte hervorzubringen, und wenn im Namen der Religion Konflikte, Vorurteile und Hass unter den Menschen hervorgerufen werden, liegt das an fehlbaren menschlichen Interpretationen und an Zwängen, die überwunden werden können, indem man nach der göttlichen Wahrheit sucht, die im Kern jeder Religion liegt. „Mögen Fanatismus und blinder religiöser Eifer nicht mehr gekannt werden“, so mahnt Er, „und die ganze Menschheit sich in Brüderlichkeit verbinden, mögen Seelen in vollkommener Übereinstimmung miteinander verkehren, die Völker der Erde endlich das Banner der Wahrheit hissen und die Religionen der Welt den göttlichen Tempel der Einheit betreten, denn die Grundlagen der himmlischen Religionen sind eine einzige Wirklichkeit.“

Religiöse Vorurteile bilden ein gewaltiges Hindernis für den Fortschritt und das Wohlergehen der Menschheit. Diese Vorurteile durchdringen, ebenso wie viele andere, die Strukturen der Gesellschaft und sind dem individuellen und kollektiven Bewusstsein systematisch eingeprägt. Tatsächlich werden sie oft absichtlich durch Manipulation und Propaganda gefördert und ausgenutzt, wobei Methoden angewandt werden, die die Wahrheit ignorieren und eigennützige Ziele aus politischer oder anderer Opportunität vorantreiben. Ein Gesellschaftssystem, das einer reifen Menschheit angemessen ist, wird im Laufe der Zeit Gepflogenheiten aufgeben, die die Menschen spalten, um Macht zu erlangen und zu festigen, die Programme fördern, die ausschließlich bestimmten Gruppen oder Segmenten der Gesellschaft auf Kosten anderer zugutekommen, und durch die man die Massen „zu fanatischen Vorurteilen [hinlenkt], die die Kultur an ihren Grundmauern unterspülen“. Es wird stattdessen die Einheit unter den Menschen fördern und Fähigkeiten und Ressourcen so kanalisieren, dass „Frieden, Wohlstand und Glück, Erkenntnis, Kultur und Gewerbefleiß, Würde, Wert und Stufe der gesamten Menschheit“ gefördert werden.

Die zerstörerischen Folgen religiöser Vorurteile sind folglich für die Bahá’í-Gemeinde Anlass zu großer Sorge. Denn schließlich ist die Einheit der Menschheit der Dreh- und Angelpunkt, um den alle Lehren Bahá’u’lláhs kreisen und zugleich das Handlungsprinzip und ultimative Ziel des Bahá’í-Glaubens. Die Besserung der Welt, ihr letztendliches Ziel, wird durch dieses Übel aufgehalten. Außerdem hat die Bahá’í-Gemeinde selbst fast zwei Jahrhunderte lang direkt unter den Folgen religiöser Vorurteile gelitten, besonders in ihrem Geburtsland.

Dennoch sind die Bahá’í zuversichtlich, dass die Völker der Welt im Laufe der Zeit lernen können, die Plage religiöser Vorurteile einzudämmen und schließlich ganz zu beseitigen. Alle Menschen haben das Recht auf Gewissens- und Glaubensfreiheit, das Recht, ihre Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und die Verpflichtung, die entsprechenden Rechte anderer gebührend zu berücksichtigen. Sie können sich dann mit gegenseitigem Respekt begegnen und in ihren gemeinsamen Werten ein gemeinsames Ziel und eine Einheit im Handeln finden, die zum Aufbau einer besseren Welt beitragen. Die Bahá’í-Gemeinde ihrerseits bemüht sich auf verschiedenen Wegen, Modelle der Toleranz, Zusammenarbeit und Gemeinschaft zu fördern.

Als Individuen bemühen sich Bahá’í täglich, nach den Lehren zu leben und die Prinzipien des Glaubens in ihrem Handeln zu verkörpern und auszudrücken.

„So frei müssen Ihre Gedanken und Taten von jeder Spur von Vorurteilen sein – seien sie rassischer, religiöser, wirtschaftlicher, nationaler oder kultureller Art, seien es Stammes- oder Klassenvorurteile“, erklärte das Haus der Gerechtigkeit in einem Schreiben an die Bahá’í der Welt, „dass sogar ein Fremder in Ihnen liebende Freunde sieht.“ Bahá’í werden von frühester Jugend an mit den gemeinsamen Grundlagen aller Weltreligionen vertraut gemacht und lernen, die Stifter aller Religionen als ihre eigenen anzunehmen und zu lieben, und Menschen aller Religionen oder denjenigen ohne Religion freundlich und kameradschaftlich zu begegnen.

Im Rahmen der Aktivitäten der Bahá’í-Gemeinde lernen die Bahá’í, althergebrachte Barrieren zu überwinden, die die Menschen gesellschaftlich voneinander trennen und die Spannungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Religionen verschärfen. Shoghi Effendi erklärte, dass „jede fest begründete, unter dem Banner Bahá’u’lláhs eingetragene Gemeinde es als ihre erste und unausweichliche Pflicht ansehen sollte, jede Minderheit, zu welchem Glauben, zu welcher Ethnie, Klasse oder Nation sie auch gehören mag, zu unterstützen, zu ermutigen und zu schützen.“ Ein Beispiel ist die Art und Weise, in der alle Minderheiten, einschließlich derer, die einem anderen religiösen Hintergrund entstammen, zur Beteiligung ermutigt werden. „Wenn irgendeine Unterscheidung überhaupt geduldet wird“, sagte Shoghi Effendi zum Beispiel hinsichtlich der zersetzenden Wirkung von Vorurteilen, „so sollte es eine Unterscheidung nicht gegen, sondern vielmehr zu Gunsten der Minderheit sein, sei sie nun ethnischer oder anderer Natur.“ Die Verfahren der Bahá’í-Wahlen sind symbolisch für dieses Engagement zur Förderung von Minderheiten – wenn eine Stimmengleichheit entsteht und einer der Beteiligten zu einer Minderheit in dieser Gesellschaft gehört, wird dieser Person bedenkenlos die Priorität eingeräumt, ohne dass erneut abgestimmt werden muss.

Darüber hinaus engagieren sich Bahá’í in Städten und Dörfern auf der ganzen Welt, ein Lebensmuster zu etablieren, das immer mehr Menschen unabhängig von ihrem Hintergrund einlädt, sich an seinem Aufbau zu beteiligen. Dieses Modell, das die dynamische Kohärenz zwischen den materiellen und geistigen Dimensionen des Lebens zum Ausdruck bringt, umfasst Unterricht für die geistige Erziehung der Kinder, in dem sie auch eine tiefe Wertschätzung für die zugrundeliegende Einheit der verschiedenen Weltreligionen entwickeln; Gruppen, die jungen Menschen helfen, in einer entscheidenden Phase ihres Lebens ihren Weg zu finden und den zersetzenden Kräften zu widerstehen, deren ausgesuchtes Ziel sie sind; Studienkreise, in denen die Teilnehmer über die geistige Natur des Daseins nachdenken und Fähigkeiten für den Dienst an ihrer Gemeinschaft und der ganzen Gesellschaft aufbauen; Versammlungen zum gemeinsamen Gebet, die die Spiritualität der Gemeinschaft stärken; und mit der Zeit ein wachsendes Spektrum an Unternehmungen, die der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung dienen. Dieses Modell des Gemeinschaftslebens führt zu lebendigen und zielbewussten neuen Gemeinschaften, in denen Beziehungen auf dem Prinzip der Einheit der Menschheit, allgemeiner Beteiligung, Gerechtigkeit und der Freiheit von Vorurteilen beruhen. Jeder ist willkommen. Der sich entfaltende Prozess ist darauf ausgerichtet, in jeder Gruppe von Menschen – ohne Rücksicht auf Klasse oder religiösen Hintergrund, ethnische Herkunft oder Hautfarbe, und unabhängig von Geschlecht oder sozialem Status – Zusammenarbeit und den Erwerb von Fähigkeiten zu fördern, dank derer sie sich erheben und zu kulturellem Fortschritt beitragen können.

Ein weiterer Bereich, auf den die Bahá’í-Gemeinde immer größere Aufmerksamkeit richtet, ist die Teilnahme an Diskursen, die von grundlegender Bedeutung für das Wohlergehen der Menschheit sind. Ihre diesbezüglichen Bemühungen zielen darauf ab, in immer breiter gefächerten Foren auf internationaler und nationaler Ebene Gespräche zu führen, Schulter an Schulter mit gleichgesinnten Organisationen und Einzelpersonen zusammenzuarbeiten und nach Möglichkeit Beratungsprozesse anzuregen und grundlegende Prinzipien erauszuarbeiten, auf welchen sich gegenseitiges Einvernehmen und gemeinsames Verständnis aufbauen lassen. Einige dieser Diskurse, etwa zur Rolle der Religion in der Gesellschaft, zur Koexistenz von Religionen und zu Religions- oder Glaubensfreiheit, sprechen direkt die zwingende Notwendigkeit an, die Herausforderung religiöser Vorurteile zu überwinden.

Vor diesem Hintergrund hat die Bahá’í-Gemeinde seit ihren Anfängen interreligiöse Aktivitäten nachdrücklich gefördert und sich gemeinsam mit anderen dafür eingesetzt, das Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den Religionen zu verbessern. Die Errungenschaften der interreligiösen Bewegung wurden in einem Brief hervorgehoben, den das Universale Haus der Gerechtigkeit im April 2002 an die Repräsentanten der Religionen der Welt richtete. Der Brief betonte auch, dass die bisherigen Bemühungen dieser Bewegung, so konstruktiv sie auch gewesen sein mögen, nicht ausreichen, um der wachsenden Herausforderung, die durch religiöse Vorurteile und Fanatismus entstehen, wirksam zu begegnen; mehr sei vonnöten. „Mit jedem neuen Tag“, heißt es in dem Brief, „wächst die Gefahr, dass die auflodernden Feuer religiöser Vorurteile einen Weltbrand entfachen, dessen Folgen sich niemand ausmalen kann“, und das Haus der Gerechtigkeit forderte ernsthaftes Nachdenken über die Herausforderungen, die dies für die religiösen Oberhäupter mit sich bringe.

Grundsätzlich ist ein Großteil der Bemühungen der Bahá’í-Gemeinde darauf gerichtet, die eigentliche Ursache religiöser Vorurteile anzugehen – Unwissenheit. „Unwissenheit fortbestehen zu lassen“, so das Haus der Gerechtigkeit, „ist die schlimmste Form der Unterdrückung; es verstärkt die vielen Mauern des Vorurteils, die der Verwirklichung der Einheit der Menschheit im Wege stehen. ... Der Zugang zu Wissen ist das Recht eines jeden Menschen, und mitzuhelfen, Wissen zu generieren, anzuwenden und zu verbreiten ist eine Verantwortung, die alle schultern müssen in dem großen Unternehmen, eine blühende Weltzivilisation aufzubauen – wobei jeder seine oder ihre eigenen Talente und Fähigkeiten einsetzt.“ Diese Ausrichtung hat sich insbesondere in der Fokussierung der Bahá’í-Gemeinde auf Bildung und Erziehung manifestiert, die ihr seit Beginn des Glaubens ein zentrales Anliegen ist; in ihren Bemühungen, bei jedem Einzelnen ein wachsendes Bewusstsein und die Fähigkeit zu fördern, Vorurteile zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken; in ihrer Praxis, Beratungsprozesse in all ihren Angelegenheiten anzuwenden; und in ihrer Verpflichtung gegenüber den beiden Erkenntnissystemen – Wissenschaft und Religion –, deren Unerlässlichkeit für den Fortschritt der Zivilisation sie anerkennt und hochhält. Darüber hinaus statten die Entwicklung des Geisteslebens und die eigenständige Erforschung der Wirklichkeit, die in den Bahá’í-Schriften eine hohe Wertschätzung erfahren, den Einzelnen mit der Fähigkeit aus, Wahrheit von Falschheit zu unterscheiden, eine Fähigkeit, die entscheidend ist, wenn Vorurteile, Aberglaube und überholte Traditionen, die die Einheit behindern, ausgemerzt werden sollen.

‘Abdu’l-Bahá versichert in diesem Zusammenhang: „Sobald aber jede Seele nach der Wahrheit forscht, ist die Gesellschaft befreit vom Dunkel des ständigen Wiederholens der Vergangenheit.“

Mit liebevollen Bahá’í-Grüßen
Sekretariatsabteilung